SPIRITUALITÄT – DAS ERWACHEN DER LIEBE

Der folgende Artikel war ursprünglich als Beitrag im Blog gedacht. Jetzt ist er unter folgendem Link auch in der akuellen Ausgabe des KGS zu lesen: http://www.kgsberlin.de/aktuell/artikel/eintrag/art89730.html

Hier die Blogvariante:

Am Baum vor dem Zimmer lösen sich die letzten Blätter und gleiten zu Boden, kleine, leuchtende Zeichen der Vergänglichkeit. Heute hat jemand hier über Spiritualität gesprochen. Ein Wort mit vielen Bedeutungen, es gibt viele Meinungen und Ansichten dazu. Mir gefällt die folgende Anleitung:

Jetzt,
mit ganzem Herzen, ganzer Seele,
mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft
richte deine Aufmerksamkeit auf das EINE ohne Gegenteil.
Erkenne dich selbst und verweile in der Wahrheit.
Dann, liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Ein Selbst, ein Sein, ein Erkennen.
Vergiß den Rest.

Das ist eine Version der alten Worte: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Matthäus 22,37-40)

Prägnanter und besser kann man den spirituellen Weg nicht zusammenfassen.
Wesentlich daran ist der unmittelbare Hinweis, dass gelebte Spiritualität zwei Pole umfasst und vereint: Einheit und Verschiedenheit, Sein und Werden, Himmel und Erde. Ein spirituelles Leben ist eines, das sich seiner wahren Natur erinnert und nach seinem Vermögen als Liebe in der Welt wirkt.
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Sich erinnern entspricht dem, was die Weisheitstraditionen aller Zeiten als Erwachen, Erleuchtung oder Befreiung bezeichnen. Dabei ist Gott oder, nach einer Neuübersetzung des aramäischen Urtextes, das EINE ohne Gegenteil, nichts, das wir suchen müssen. Das EINE ist nicht verborgen, weit weg oder ein Geheimnis. Es ist gegenwärtig. Und das es ohne Gegenteil ist, ist alles, was wir sehen, fühlen, denken, berühren, hören oder riechen das EINE. Es gibt nichts anderes. Wir können es gar nicht verfehlen. Alles um uns herum und alles in uns ist Gott. Genauer gesagt gibt es für Gott keine Grenzen, kein innen oder außen und kein von Gott abgetrenntes Ich. Deshalb lautet das erste Gebot nicht, das EINE zu suchen. Das wäre so sinnlos, wie einem Menschen aufzutragen, die Erde zu suchen, auf der er steht. Die Aufgabe ist viel leichter. Wir müssen uns mit allem was wir haben daran erinnern, dass Alles das Eine ist. Immer wieder und unter allen Umständen. Das Schwere daran ist nicht Gott. Es ist das Beharren des egozentrischen Denkens darauf, dass Gott etwas anderes, etwas von uns getrenntes ist.

Jedes Mal, wen wir uns an das EINE ohne Gegenteil erinnern, erinnern wir uns auch daran, was wir sind und mit dem Erinnern geht eine immer tiefere Liebe einher. Sich erinnern und sich zu lieben sind eins. Das ist so, weil wir im tiefsten Grund Liebe sind. Du weißt das, so wie es jeder Mensch weiß, der einen Augenblick der Offenheit und Aufrichtigkeit mit sich erlebt. Darin erfahren wir uns entweder als Liebe oder wir erfahren die Verzweiflung darüber, uns von der Liebe abgeschnitten zu haben. Beides, Liebe sein oder Liebe vermissen, bedeutet, dass wir sie als unsere wahre menschliche Natur kennen. Man kann nicht vermissen, was man nicht kennt.

Um uns an das EINE ohne Gegenteil zu erinnern, was bedeutet, uns selbst zu lieben, braucht es keine Rituale, Religionen oder Philosophien. Es braucht kein intellektuelles Verständnis davon, was Gott ist. Es braucht nur die unbedingte Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit:

Wir öffnen unser Herz der Gegenwart, die immer die Gegenwart Gottes ist, ohne zu urteilen und ohne etwas anderes zu erwarten als Vollkommenheit.
Wir folgen dem Ruf unserer Seele, das bedeutet unserer tiefsten Sehnsucht, ohne uns von dem Lärm des Egos und der Welt ablenken zu lassen.
Wir läutern und untersuchen unsere Gedanken, bis nur solche Bestand haben, die der Wahrheit Gottes entspringen und nicht der Konditionierung des Denkens durch unsere persönliche, gesellschaftliche oder globale Geschichte. Geschichte ist Vergangenheit, das EINE ohne Gegenteil kennt nur das Jetzt.

Mein Wort für die umfassende Hinwendung an das, was jedes Denken und jede Wahrnehmung übersteigt, ist Kontemplation. Wir üben uns darin, still zu sein und Körper, Geist und Seele zu öffnen, bis das Erinnern sich als tieferes Wissen einstellt. Das ist etwas so einfaches, dass es sich in unserer komplexen Welt anachronistisch anhört. Wir sind so sehr auf das Tun fixiert, dass wir das unmittelbare Sein aus den Augen verlieren. Das Verblüffende auf den Wegen der Spiritualität ist nicht das EINE ohne Gegenteil. Das entzieht sich jeder Beschreibung, obwohl es ist immer und überall gegenwärtig ist, direkt vor und hinter unseren Augen. Das Verblüffende ist, das wir es immer wieder fertig bekommen, das Mysterium der Einheit nicht zu sehen. Wir leben in einem Traum der Trennung und tun alles, um die Augen nicht zu öffnen.

Spiritualität hat nie wirklich mit Gott zu tun, sondern nur damit, die Barrieren aus dem Weg zu räumen, mit denen wir uns von ihm ablenken. Bei dieser Reise geht es nicht darum, ein Ziel zu erreichen, sondern der Tricks und Illusionen gewahr zu werden, durch die das egozentrierte Denken sich und sein Universum schützt. Wir waren nie weg und befinden uns trotzdem auf einer Reise, die uns mehr und mehr heraus aus unserer egozentrierten Identität in das Einheitsbewusstsein der Seele führt. Es gibt nichts zu erreichen und doch kämpfen wir mit ganzem Herzen, aller Kraft und Atemzug für Atemzug darum, der Wahrheit treu zu sein.

Der Grad der Intensität mit der wir diesen Kampf führen, entspricht der Liebe, die wir fühlen. Je breitere Risse die Mauern bekommen, hinter denen sich unsere falsche Identität verschanzt, desto mehr Liebe strömt ein.
Dabe ist die oft gehörte Aufforderung, sich selbst mehr zu lieben, zumindest mißverständlich. Wir müssen nicht ein illusionäres getrenntes Ich mehr lieben, wir müssen uns daran erinnern, dass nichts außerhalb der Liebe existiert und alle Gedanken auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersuchen, die das Gegenteil behaupten. Sich lieben und das EINE lieben sind dasselbe. Es gibt kein Ich außerhalb Gottes und alles, was auf seiner Unabhängigkeit besteht, ist keine Liebe, sondern eine Illusion.

Darauf zielt das zweite Gebot. Es ist bereits erfüllt. Wir lieben uns und den Nächsten immer nur in dem Maße, indem wir der Liebe als dem wirkenden Aspekt Gottes bewusst sind. Finden wir also mit ganzem Herzen und ganzer Kraft heraus, was wir wirklich sind, dann finden wir auch die Liebe. Sie kann uns von nichts und niemanden gegeben werden. Sie ist von nichts und niemanden abhängig. Wir können sie nicht verdienen und wir können sie nicht manipulieren. Wir können uns, wenn wir den egozentrierten Gedanken verfallen, nur so verwirren, dass wir das Offensichtliche nicht mehr wahrnehmen.
Wenn wir uns der Liebe als unserer Heimat erinnern, fällt jede angenomme Grenze zwischen uns und unserem Nächsten. Es gab nie einen Anderen, es gibt immer nur die Liebe, die sich in unzähligen Formen selbst begegnet.
Das, was wir dem Nächsten antun, tun wir uns selbst an. Die Haltung, in der wir dem Nächsten begegnen, reflektiert das Maß der Liebe und Bewusstheit, das wir uns entgegen bringen.

Was bedeutet es zu lieben, wenn wir Liebe nicht mit der Befriedigung unserer Bedürfnisse gleichsetzen?
Wie begegne ich dem Nächsten, wenn ich in ihm, ungeachtet aller Umstände, die Vollkommenheit Gottes sehen kann?
Was könnte es mehr geben, als das Wunder, jetzt und hier gegenwärtig zu sein – als das EINE ohne Gegenteil?

Spiritualität, und auch das schwingt in den eingangs zitierten Worten, ist eine Haltung des Herzens, die wir kultivieren können. Es ist eine beständige Übung darin, unsere Aufmerksamkeit in ihrem Ursprung, dem EINEN ohne Gegenteil ruhen zu lassen, ohne die Angelegenheit des Alltages aus den Augen zu verlieren. Spiritualität, die sich in Erleuchtungserlebnissen erschöpft, ohne diese im ganz gewöhnlichen Leben zu erden, ist blutleer. Es geht nicht darum, flüchtigen Momenten von Glück oder Ekstase
nachzujagen, sondern in einen tieferen Zustand des Seins einzutreten.
Wenn auch das erste Gebot die Erinnerung der Einheit ist, ist es ebenso wichtig, diese unbedingte Ausrichtung unter allen Lebensumständen beizubehalten. Das ist das zweite Gebot. Der Alltag ist das Übungsfeld, indem wir uns aus der konditionierten Vorstellung von uns als einer singulären Identität mit festgelegten Rollen lösen und als fließende, offene Verkörperung des EINEN, die (wo sonst?) nur in der Gegenwart Bestand hat, erwachen. Jetzt sind Spiritualität und Leben, Himmel und Erde, Sein und Werden eins.

Ohne eine spirituelle Haltung – frei stehend als Unendlichkeit im Endlichen – ist ein wirklicher Wandel nicht möglich. Sie ist Ausdruck einer Bewegung hin zu Ganzheit, Wahrheit und Freiheit und entspringt dem evolutionären Drang des Bewusstseins, sich tiefer zu erkennen und als Liebe auszudrücken.

Wir fühlen, dass wir in Zeiten eines globalen Wandels leben. Dabei geht es nur vordergründig um die aktuellen Fragen wie Armut, Umwelt, Krieg, Technik . . . Es ist ein Wandel, der sich im Bewusstsein von der noch dominierenden Perspektive der Trennung und Angst hin zur ungeteilten Wirklichkeit der Liebe vollziehen will. Jedes Mal, wenn wir diesen Sprung aus der Angst in die Liebe im ganz konkreten Alltag wagen, verändert sich unser Leben und das der ganzen Welt.

Dem Wandel zu dienen und zwar aus ganzem Herzen, ganzer Seele,
mit all unseren Gedanken und aller Kraft ist das grosse Anliegen, dem sich unsere Herzen verschrieben haben und das wir mit der Herzwegearbeit in die Welt tragen.

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