DAS KIND IN DER ECKE

PicsArt_09-19-05.47.23Heute und an vielen Tagen
sitzt in der Ecke meines Praxiszimmers ein Kind.

Nicht immer dasselbe.
Es kann etwas älter oder jünger sein,
größer oder kleiner, Mädchen oder Junge.
Diesem Kind geht es so gut wie nie gut.
Es schreit wütend oder schweigt trotzig und verbittert,
ist traurig, unfähig zu sprechen, einsam, verzweifelt.
Oft will es keinen Kontakt, weil es nicht erwartet, dass Kontakt
hilfreich, unterstützend und gut sein kann.

Es leidet und es glaubt, dass das Leiden nie aufhört.
Das ist seine Lebenserfahrung.

So verschieden die Kinder in der Ecke auch sind,
etwas haben sie gemeinsam:

Jedes von ihnen glaubt aus ganzem Herzen,
dass etwas mit ihm nicht stimmt,
dass ihm etwas fehlt
oder es schlimme Fehler begangen hat.
Und es glaubt, dass es deswegen nicht liebenswert ist.

Die Kinder erzählen unterschiedliche Geschichten,
aber die Schlußfolgerung, die sie aus ihren Erfahrungen ziehen,
ist immer diesselbe:
Ich bin nicht gut und nicht richtig, so wie ich bin.
Wäre ich richtig, würde ich geliebt werden
und die Liebe nicht so herzzerreißend schmerzhaft vermissen.

Die Kinder leben in der Erfahrung der fehlenden Liebe,
weil wir ihnen beigebracht haben,
dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist.
Sie glauben, dass sie sich die Liebe verdienen oder erkaufen müssen.
Leider gelingt das nie wirklich, was ihnen nur beweist,
dass sie eben zu klein, nutzlos, ungenügend . . . . sind.

Das Kind hört viele Stimmen:
Sei nicht so laut,
du bist gerade zuviel,
sei schneller oder langsamer,
dicker oder dünner, größer oder kleiner.
Sei besser ein Junge oder lieber ein Mädchen,
sei erfolgreich und stärker als andere,
oder sei lieber zurückhaltend und nett und tue niemandem weh.
Du weißt nicht, was gut für dich und andere ist,
du musst immer wissen, was richtig ist.
Warum machst du es nicht so,
na ja, aber so jetzt auch wieder nicht.
Dazugehören ist sehr wichtig,
wichtiger, als dir selbst zu vertrauen.
Streng dich mehr an, mach was aus dir,
updaten, upgraden . . .
Du bist nicht um deiner selbst willen da,
sondern weil du etwas leisten musst.
Vielleicht, wenn du in meinen Augen ganz perfekt bist,
(was du sowieso nie erreichen kannst),
gibt es ein bisschen Liebe.

Das Kind hört viele Stimmen, aber wer hört auf das Kind?
Irgendwann glaubt es den Stimmen und gibt sich auf.

Und wir sprechen nicht mit ihm.
Wir begegnen ihm weder mit Mitgefühl, Interesse noch Zuneigung.
Statt uns manchmal zu ihm zu setzen und zu sagen,
dass Liebe entweder bedingungslos oder keine Liebe ist,
schämen wir uns für seinen beklagenswerten Zustand,
verstecken, ignorieren, leugnen es.

Wir erklären ihm nicht, dass die Urteile und Glaubensätze
unter denen es leidet, nie der Wahrheit entsprochen haben.

Wir lehren es nicht, dass seine Lebendigkeit etwas Heiliges ist.

Wir wollen seinen Schmerz nicht fühlen und
verleugnen dadurch die Wichtigkeit und Schönheit
all unserer Gefühle.

Wir verweigern ihm Würde, Respekt, Neugier, Freiheit,
Offenheit, Fürsorge und Liebe und schaffen eine Welt,
in der es daran mangelt.

Solange wir nicht fähig sind, das Kind im Arm zu halten
und mit ihm zu sein, bis es sich beruhigt und sein Schmerz
nachlässt – immer und immer wieder – können wir nicht zu
einer tieferen Menschlichkeit finden, nicht zu einer heileren Welt beitragen,
geschweige denn das ungeheuere Potential verkörpern,
das unser Geburtsrecht ist.

Dieser Atemzug,
das sanfte Hinspüren zu dem in uns, was schmerzt,
wohlwollende und schützende Offenheit,
fühlen ohne beurteilen,
mit weitem Herzen annehmen und umarmen

. . . . und manchmal lächelt das Kind und fängt an zu spielen.

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