SOULWORK: DAS WICHTIGE

Der Mann im Sessel gegenüber sprudelt über von Ideen und Worten. Er ist eloquent und witzig, fähig zur Reflexion und doch wirkt er getrieben, so als sei er schon wieder auf dem Sprung, obwohl unsere Verabredung gerade erst begonnen hat. Ich verstehe, was er sagt und spüre doch wenig innere Resonanz zu dem Gesagten. Um was geht es ihm wirklich? Was will sich hier zeigen?

Ist es möglich, einfach hier zu sein, ohne Plan, ohne etwas erreichen oder verstehen zu müssen? Was geschieht, wenn wir nur wahrnehmen, was ist, ohne einzugreifen und es zu interpretieren? Wie, beispielsweise, ist es, auf diesem Stuhl zu sitzen? Spüren sie ihren Bauch? Was genau nehmen sie wahr? Können wir den Geräuschen auf der Straße lauschen? Können wir unsere Aufmerksamkeit ganz auf den Augenblick verlagern, einfach nur gegenwärtig sein?

Der Mann ist etwas befre54267917_2232845813621985_1296724946776489984_nmdet von meinen Vorschlägen und lässt sich doch darauf ein. Und tatsächlich breitet sich nach einigen Minuten eine fast greifbare Stille im Raum aus in der nichts fehlt und wir uns beide entspannen.

In der Stille geht mir ein Satz des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart durch den Sinn: „Immer ist die wichtigste Stunde die gegenwärtige; immer ist der wichtigste Mensch, der dir gerade gegenübersteht; immer ist die wichtigste Tat die Liebe.“

Ich spreche die Worte laut aus und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen dem Mann und mir, in dem wir, eher tastend und forschend als linear und wissend, mögliche Bedeutungen erforschen:

Kann es sein, so fragen wir uns, dass die gegenwärtige Stunde deshalb die wichtigste ist, weil es keine andere gibt? Weil alle vergangen Stunden nur Erinnerung und alle künftigen nur Vorstellung sind? Alle Zeit ist jetzt und wo wir das vergessen, weil wir unsere Aufmerksamkeit ständig auf das scheinbar Vergangene oder Zukünftige richten, verpassen wir das tatsächliche Leben. Leiden und Unglücklichsein beginnen, wenn wir uns nicht auf die Gegenwart, die gegenwärtige Stunde einlassen, sondern versuchen, ihr zu entkommen.

Zu dem Leben, wie es tatsächlich ist und sich in der Gegenwart (und nur dort!) zeigt, gibt es keine Alternative. Solange uns das bewusst ist, verschwinden Hader, Zweifel und Sorgen. Vergessen wir es, kehren sie zurück.

Das unbedingte Einlassen auf die Gegenwart ist tröstlich und heilend. Jeder Moment ist dann der richtige und wir vrstehen, dass das, was wirklich passiert, ungeachtet unserer Wünsche und Vorstellungen, das Einzige ist, das jetzt geschehen kann.

Deshalb ist auch jede Person, die uns begegnet, die richtige. Sie ist gerade unsere wichtigste Beziehung, durch das wir das Leben und uns selbst tiefer erfahren können. Sie ist das Leben. Die Freundlichkeit oder Unfreundlichkeit die wir ihr entgegenbringen, ist daher die gleiche, mit der wir uns selbst behandeln.

Mit welcher Haltung begegnen wir überhaupt dem anderen und uns selbst? Mit Offenheit, Neugier? Mit Wertschätzung, Achtung, Würde? Mit Liebe? Für Meister Eckhart ist das offensichtlich und liest sich leicht, doch in Wirklichkeit ist die Tat der Liebe eine ständige und fordernde Disziplin. Sie verlangt, immer wieder, dass wir das Rechthaben und das Beharren auf unserer Weltsicht aufgeben und über das Bekannte hinauswachsen. Zu lieben bedeutet, unser Herz ganz und gar der Gegewart zu öffnen und zu umarmen, was darin auftaucht und das oft im Widerstreit zu unserer Bedürftigkeit, zu unseren Hoffnungen und Erwartungen.

Doch wenn auch die Tat der Liebe nicht immer leicht fällt und gelingt, bleibt die Liebe selbst das, was sich mühelos, unfehlbar und ungebrochen zeigt, wenn wir alles andere weglassen.

Das Gespräch verstummt und wir sitzen für einige Minuten in Stille. Am Ende unserer Zeit sagt der Mann, dass er, obwohl wir darüber gar nicht gesprochen haben, Klarheit über einige der Angelegenheiten gewonnen hat, die ihn bewegen. Das freut mich.